Fabian

Wir sitzen an einem Freitagabend gemütlich beisammen, er mir gegenüber auf dem Sofa, mit einem Gläschen Wein. Er rede nicht gerne darüber, ich spüre deutlich, wie er mental Anlauf nehmen muss.„Darüber“ ist die Geschichte seines Sohnes und sein Erleben und wie das alles so war. Fabian, heute 20 Jahre alt, Autist mit Asperberger Syndrom.

 

Nach einem tiefen Atemzug versucht er sich in Gefühle und Situationen hineinzuversetzen, was und wie er es erlebt hat. Ist ja schon ein Weichen her, fast 15 Jahre, seit er eine andere Richtung eingeschlagen hat. Der Kontakt zu seinem Sohn ist seit dem so gut wie eingeschlafen und dennoch ist es eines der wenigen Themen, die ihn emotional tief berühren.

 

Die ersten Erinnerungen, die kommen sind Bilder von Spielplätzen (Outdoor und Indoor), Fabian war da noch ein kleines Kind, keine 6 Jahre alt:

„Am Anfang habe ich noch ausführlich erklärt, dass und was und warum der Fabian sich so oder so verhält – und dadurch versucht, den anderen Eltern den „Wind aus den Segeln zu nehmen“ ihrer möglichen Kritik oder ihren fragenden Blicken zuvorzukommen. Irgendwann war ich das Leid, dieses um Verständnis werben, mich quasi zu entschuldigen, oder mich zu erklären, weil das Kind ja Dinge gemacht hat, die die anderen Kinder nicht machen. Mich plagten Gedanken wie, dass die anderen Eltern denken, „der kann sein Kind nicht erziehen“. Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, einem Erwartungsdruck standhalten zu müssen und war das irgendwann so leid.“

Dieses „das Kind im Griff haben zu müssen“, sich ständig erklären zu müssen hat dazu geführt, dass er deswegen, die „Leine eng gehalten hat“. Heißt, zu versuchen, die Situationen zu kontrollieren, dadurch dass er dicht bei dem Kind geblieben ist, um zu lenken, eingreifen zu können. Eine fortwährende Anstrengung.

 

„Ich wusste ja nie, wie die Interaktion mit den anderen Kindern funktioniert und wollte ihn schützen, weil er sich nicht zur Wehr setzen konnte, machtlos war. Er hatte kaum Körperspannung, ich hatte das Gefühl, ich muss ihn beschützen, damit er nicht geschubst wurde oder ähnliches. Manchmal sitzen die Eltern ja auf der Parkbank und lassen die Kinder spielen, das ging bei Fabian so nicht.

 

Ich war immer ganz froh, wenn es Momente gab, wo er sich mit den Dingen beschäftigen konnte, ohne dass viel los war, sodass er sich mit den Materialien beschäftigen konnte und es nicht zu Interaktionen mit anderen Kindern kam. Mag sein, dass es vor allem häufig meine Angst davor war, dass die anderen ihn schlecht behandeln könnten. Das passierte zwar nicht oft, ich wollte ihn das aber auch nicht erleben lassen.

 

Fabian konnte keine Gefahren einschätzen, hat sich nicht hingetraut, wenn andere Kinder da waren. Er konnte mit Erwachsenen besser umgehen, als mit Kindern, Erwachsene waren berechenbarer.“

 

Wir machen hier eine kurze Pause, Luft holen, es ist, als wenn man in einem Fotoalbum Bilder anschaut, Momentaufnahmen und dann umblättert.

 

Ob es ein „vorher“ gab, will ich gerne wissen. Meine damit Vorstellungen und Erwartungen wie, die so waren, wenn man Vater wird und ein entsprechendes „nachher“, nach diesem Moment, an dem man sieht, merkt, realisiert, dass man abgebogen worden ist. Gab es diesen Moment überhaupt, der wie ein Schild ankündigt: ab hier außergewöhnlich!?

 

Er verneint es: „Ich hatte wenig Vorstellungen und Bilder im Kopf, die waren vorwiegend aus Schule und Fernsehen. Ich selber bin mit zwei Brüdern bei meiner Oma aufgewachsen, habe nicht selbst erfahren, wie es ist, einen Vater zu haben. Ich war das erste von den Kindern meiner Eltern und auch aus meinem Freundeskreis, der Vater geworden ist. War absolutes Neuland.

 

Erstmal ging es dann um praktische Dinge, darum, was wir an materiellen Dingen brauchten. Ja klar, damit waren natürlich schon Bilder verknüpft.

 

Fabian kam 6 Wochen zu früh auf die Welt, ich saß die ersten Tage viel da, im Krankenhaus auf der Frühchen-Station. Organisch hat sich alles normal entwickelt, die ersten 2 Jahre gab es noch keine Auffälligkeiten. Ich erinnere mich daran, dass er relativ spät laufen gelernt hat, aber bis zu diesem Zeitpunkt fiel das alles noch unter den Begriff „Entwicklungsverzögerung“, die „normal“ sein kann.

Im Laufe des ersten Jahres stellte sich dann heraus, dass er auch nicht in der Lage war, zu kauen und feste Nahrung zu schlucken.

In dem Alter darf man noch ein bisschen „anders“ sein, da gibt „man“ noch Freiräume, die in mir die Hoffnung aufrechterhalten haben, dass er noch aufholt und sich entwickelt.“

 

Ab da begann die Diagnostik-Reise, Arzttermine, Termine beim Osteopathen, zum Check nach Pelzerhaken. Ziel der Reise hieß: Was ist da nicht „ganz richtig“.

 

„Man gibt der Sache bzw. dem Kind ja auch Zeit, dazu kam, ich hatte keinerlei Vergleich, sagte mir: ok, das kann sich ja noch geben….. Fabian wurde älter, wurde schulpflichtig. Nicht, weil er so weit war, sondern weil eine Zahl sagt, dass man dann schulpflichtig ist. In mir war immer noch Hoffnung, aber irgendwann wird aus der Verzögerung ein Endzustand und dann ein Krankheitsbild. Für mich war das ein Prozess zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr.

 

Das etwas anders bleiben würde, wurde mir erst mit der offiziellen Diagnose und im Austausch mit spezialisierten Personen richtig bewusst. Die persönliche Verarbeitung war ein Prozess.

 

Zu diesem Zeitpunkt gab es den üblichen Austausch mit dem Kindergarten, es war nun klar, dass er nicht alleine in die Schule gehen konnte, brauchte eine Schulbegleitung (um in das System „Schule“ zu passen). Wie sollte es überhaupt weitergehen...

 

Wir machen hier wieder eine Pause, ich spüre die Schwere, die in den Erinnerungen mitschwingt. Die Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ungewissheit und Traurigkeit, weil da niemand und nichts war, was geholfen und unterstützt hat und es doch zu schwer war, alleine daran zu tragen. Mein Gegenüber holt tief Luft, trinkt noch einen guten Schluck, spricht dann weiter:

„Man ist ja auch noch berufstätig und normalerweise läuft alles parallel, Kinder und Arbeit -so die Erwartung - muss man unter einen Hut bringen.

 

Mit der Diagnose kam als erste Maßnahme ein Therapeut, Albert, von der Lebenshilfe für 25 Stunden.

Das war positiv, es gab gute Interaktionen und auch Fortschritte, am Ende der bewilligten Stunden hätte Albert gerne weiter mit Fabian gearbeitet. Das wurde aber nicht weiter bewilligt, weil die Fortschritte für das System nicht groß, nicht sichtbar genug waren.“

 

Pause und Kopfschütteln. Unverständnis bis heute. In der Luft hängen inzwischen die Emotionen, man sieht förmlich, dass viele Bilder vorüberziehen, eine Seite nach der anderen wird in diesem imaginären Fotoalbum angeschaut und umgeschlagen. Er ringt jetzt um Worte, Aussprüche wie „das ist schon heftig“ fallen, es braucht einen weiteren Schluck, er erzählt, dass Albert mit diesen System-Kämpfen nicht zurechtkam und früh an Krebs verstorben ist.

 

Nachdem das Glas wieder steht, nimmt er den Faden wieder auf und erklärt, wie er die Sache mit den Fortschritten empfindet. Dass sie ja eigentlich in einer anderen Relation gesehen werden müssten, mit anderen Maßstäben gemessen werden müssten. Aber das Maßstabssystem hatte dafür keine Augen. Keinen Blick.

 

Wir philosophieren über das Wort „Entwicklungsverzögerung“ – welche Wertung das beinhaltet. Heißt ja, du bist nicht im normalen Schritt, nicht da, wo du sein solltest – aus wessen Perspektive eigentlich? Einer kleinen Gruppe irgendwelcher Menschen? Lediglich im Vergleich zu anderen?

 

Je älter Fabian wurde, desto deutlicher wurde die „Verzögerung“ und umso größer wurden die Herausforderungen, in das System zu passen, umso mehr Kämpfe gab es mit und in dem System Schule, Arbeit und Gesundheit.

 

Es gab medizinische Gutachten über die Pflegestufen – auch ein Kampf: Die benötigte Pflegestufe wurde zunächst abgelehnt, begründet auf der Grundlage eines zwei Jahre alten Gutachtens, was begutachtet wurde, Widerspruch musste eingelegt werden. Es gab dann ein neues Gutachten und die Pflegestufe wurde bewilligt.

 

Viel Kopfschütteln, wortlos, sagt aber viel. Bin mir an dieser Stelle sicher, es gibt noch viele weitere kleinere und größere Kämpfe dieser Art.

 

Er schluckt und erzählt weiter:

„Auf der einen Seite mag ich das Gefühl, das mich zu Tränen rührt, auf der anderen Seite bin ich so konditioniert, dass ich im Alltag das Gefühl selten zulasse.

 

Ich habe viele Momente aufgenommen, habe versucht, sie als Bilder in meinem Kopf und Herzen mit allen verbundenen Sinnen zu speichern. Insbesondere die schönen Momente, in denen er sich voller Freude, sorglos und unbekümmert an den kleinen Dingen und Entdeckungen des Lebens auf seine besondere Weise erfreuen konnte. Die Herzmomente.

 

Wenn ich die Augen schließe, ist alles präsent - die Momente kann mir keiner nehmen, die in mir sind. So erlebe ich das jetzt auch mit den Erfahrungen und Momenten, die ich mit Fabian “aufgenommen“ habe, ich versuche heute noch Rückschlüsse zu ziehen, zu verbinden, möglichst wertfrei, um zu verstehen.

 

Er scheint nochmal ein wenig in dem Fotoalbum hin und herzublättern, es kommt mir vor, als erkläre er mir die Bilder, die da zu sehen sind.

 

Der (Selbst-)Zweifel bleibt, ob er in bestimmten Situationen etwas falsch gemacht hat?

 

Bilder vom Memory spielen und Fabians deutlichem Talent, sich extrem schnell Dinge zu merken, die ihn interessierten, wie zum Beispiel die schwierigen lateinischen Namen der Dinosaurier, er hat Rezepte abgespeichert, englische Vokabeln. Was ihm fehlte war, einen Kontext herzustellen, zumindest aus unserem gewöhnlichen Erleben– oder ist eigentlich, was fehlt unserer Fähigkeit, daraus etwas zu machen, sie einzusetzen, einen Platz zu schaffen, wo man diese Fähigkeiten einsetzen kann?

 

Dieser Gedanke bringt ihn dazu, den weiteren Verlauf der Schulkarriere zusammenzufassen:

(*Anmerkung der Verfasserin, die ja das System der Förderschulen kennt: Ich habe nicht das Gefühl, das er als Vater wusste und darüber informiert und aufgeklärt wurde, was es für Möglichkeiten gibt, wie das System, diese Welt der Außergewöhnlichen in der Schulzeit aussieht – das mag zum einen daran liegen, dass er nicht mehr so nah dran war, weil er sich getrennt hatte, zum anderen aber mit Sicherheit auch daran, dass es ihm einfach niemand hinreichend erklärt hat und er zwar gemerkt hat, dass man irgendwie kämpfen muss, aber gar nicht so genau, wofür, was man erringen konnte, mit welchen Mitteln und Möglichkeiten. Bis heute ist nicht klar, was man denn erreichen könnte, was Fabians Zukunft betrifft, an wen man sich wenden muss, wie die Wege sind, die man gehen kann. Er hat eigentlich keine Antwort auf die Frage: wo siehst du Fabian in 5 oder 10 Jahren.)

 

„Nach der Grundschule ist Fabian bis zur 8. Klasse in einem Förderzentrum (Schwentinetal) untergebracht gewesen. Es ging ihm dort gut, unter der Woche war er dort, am Wochenende Zuhause. Die ganze Zeit über lief allerdings ein Gerichtsverfahren über die Übernahme der Kosten für den Schulbesuch. Welches verloren wurde, was bedeutete, dass vom Kreis Nordfriesland keine Gebühren mehr übernommen wurden. In der Folge endete nach der 8. Klasse Fabians Schulzeit. Trotz Schulpflicht, die ja in Normalfall mit harten Mitteln vom Staat und seinem Schulsystem eingefordert wird – in diesem Fall gab es niemanden, den das zu kümmern schien. Ab da blieb er einfach Zuhause. Bis heute lebt Fabian bei seiner Mutter, quasi ohne Anbindung an Gesellschaft, Gemeinschaft, einer Förderung oder der Aussicht auf angepasste Umstände.“

 

Ich stelle ihm letzte Frage für heute: wo siehst du dich 5 Jahren? Der Blick wandert aus dem Fenster, über das Feld. Er wünscht sich eine Beziehung zu seinem Sohn, das weiß ich, ohne dass er es ausspricht. Eine erste kleine Idee findet ihren Weg. Vielleicht ein Brief, mit Gefühlen in Worte gekleidet, um Lücken zu schließen, Brücken zu bauen. Nähe herzustellen. Wie wunderbar.

 

Danke

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