Max

Heute bin ich bei Meike.

Es ist anders, als mit Eltern zu sprechen, die noch mitten „in der Schlacht“ sind. Bei Meike ist es, als ob ich mit ihr über eine große Wiese schlendere, ein Feld. Der „Schauplatz“ ihrer Kämpfe aus der Vergangenheit.

Sie ist Mutter von zwei Kindern, heute 24 und 27 Jahre alt, jedes auf seine Weise an einem Ort angekommen. Sie wirkt gelassen, zufrieden. Glücklich. Ihre Kinder sind glücklich. Sie hat die Schlachten geschlagen – und irgendwie gewonnen, für sich und für ihre Kinder.

Ich muss an die Mittelalter-Feste denken, die ich mit meinen Jungs besucht habe, auf denen Geschichte nachgestellt wird, um sie lebendig zu halten. So ähnlich fühle ich mich - sie zeigt mir die Zeugen der Zeit, manche schon überwuchert, so dass man sie übersehen könnte und erzählt mir ihre Geschichten dazu. Die Fläche bekommt eine andere Bedeutung. Ist nicht mehr nur eine harmlose Wiese.

Die vergangenen Jahre haben bereits das ihre getan, für den ahnungslosen Betrachter könnte es auch „nur“ eine ganz gewöhnliche Wiese sein. Ist das gut oder nicht? Ich glaube, es ist beides.

Gut, dass Frieden eingekehrt ist.

Schlecht, wenn es ganz in Vergessenheit geraten würde, denn man erfährt Trost, Mut. Kann aus dem Rückblick vielleicht leichter nach vorne schauen.

Nun denn, ich nehme euch mit auf die „Führung“, die ich bekommen habe.

Sie beginnt mit Philipp, er kommt 1996 gesund zur Welt. 2 Jahre später dann Max.

Sie überträgt Max und erfährt auf diese Weise durch pränatale Untersuchungen in der Klinik ein paar Tage vor der Geburt, dass mit dem Kind „irgendetwas nicht in Ordnung ist“. Das Kind scheint zu groß, die Nieren zeigen einen beidseitigen Reflux. Die Welt steht Kopf. Und unter Wasser. Ihr ist zum heulen zumute.

Ihr Plan, „Kind kriegen, unter den Arm klemmen und ab nach Hause“ schwimmt davon. Ungewissheit nagt, verunsichert sie.

So fährt sie mit den aufwühlenden Gefühlen nach Hause. Ihr damaliger Mann und Vater der Kinder ist ihr in diesen Stunden kein Beistand und sie findet sich ziemlich alleingelassen wieder.

Wechselt in die Klinik nach Eutin, weil sie sich dort angenommener und besser betreut fühlt. Dort finden erneute Untersuchungen statt, zunächst mit Entwarnung, was sie beruhigt, ihr die nötige Verfassung verschafft, Kraft zu schöpfen. Ein paar Tage darauf wird die Geburt eingeleitet, es ist ein Dienstag. Die Atmosphäre ist heiter, am Abend erblickt Max das Licht der Welt.

Keine Spur einer Ahnung, was noch auf sie zukommt.

Kaum ist er auf der Welt, geht es in die Kinderklinik nach nebenan, das Zungenbändchen musste gekappt werden „und noch so ein paar Sachen, die ich nicht wirklich verstanden habe. Ich war so unglücklich.“

„Warum mein Kind, warum nicht ich?“ ist ihr vorherrschender Gedanke.

Es folgen weitere Klinikaufenthalte im Laufe der nächsten 2 Jahre in der Kinderchirurgie, mit kleineren und größeren Eingriffen. Es fällt ihr schwer, annehmen, akzeptieren ist ein zäher Prozess. Persönlicher Wendepunkt ist der Moment, indem ein Arzt sie zur Seite nimmt und ihr sagt, dass ihr Kind mit oder ohne großer OP ein lebenswertes Leben haben wird. Das legt einen Schalter in ihr um, der sie annehmen und akzeptieren lässt.

Die große OP kommt noch vor dem 2. Lebensjahr.

Die Eltern und die Oma, die an ihrer Seite stehen, sind ihre Stützen.

Sie erinnert sich mit sichtlicher Rührung an eine Begegnung aus dieser Zeit mit einer besonderen Familie in ähnlichen Umständen, deren Herz und Kraft so groß ist, dass sie auch ihren Sohn während des Krankenhausaufenthaltes mit einschließt. Das hilft. Es sind die kleinen Dinge, die stillen Momente.

Die Vermutung eines Gendefekts steht im Raum, da einige äußere Merkmale dafür sprechen könnten, wie zusammengewachsene Augenbrauen, die kleinen Finger mit „Knick“ nach innen, verkürzte Oberlippe usw. Sie lässt nicht weiter nachforschen, denn „ob ich einen Namen dafür hab oder nicht ist mir völlig lattich!“ Das ist Meike!!

Ein anderer Schauplatz:

Am 13.3.1999 erlebt sie den ersten epileptische Anfall ihres Sohnes, Max stürzt unter dem Krampf vom Wickeltisch und erleidet eine Schädelfraktur. Epilepsie bis dahin natürlich ein Fremdwort. „Er war manchmal `komisch`“, beschreibt sie es rückblickend.

Bei einem erneuten epileptischen Anfall hilft ihr die Nachbarin, sie fahren ins Krankenhaus, dort bekommt er einen weiteren. Affektkrämpfe, nun gibt es eine Diagnose.

Es ist nicht leicht, mit den Anfällen umzugehen. Schon das Wort belastet, löst in ihr noch lange Zeit unangenehme Gefühle aus.

Nach der Diagnose wird er Medikamentös eingestellt. Die Anfälle hören auf und irgendwann schleicht sie das Medikament aus. Alles gut.

Aber es gibt ja noch weitere Kampfplätze:

Wie so häufig und ja sicherlich auch nicht immer falsch fällt vieles, was bei dem kleinen Burschen so bemerkbar ist unter den Begriff der Entwicklungsverzögerungen. Max hat eine starke Sehschwäche, er rennt in Schaukeln, verletzt sich häufig. Hat ein bisschen gedauert, bis die Ärzte die richtigen Maßnahmen getroffen haben. Er nimmt keine Gefahren wahr. Kann seine Kräfte und Emotionen nicht angemessen steuern. Fällt in der Spielgruppe auf. Meike beschreibt ihn liebevoll als „Kamikaze-Kind“. Er bekommt mit dem 2. Lebensjahr Frühförderung Zuhause.

Mit drei Jahren bekommt er einen Behindertenausweis, dem Vater ist das peinlich, will, dass niemand davon erfährt. Für die Pflegestufe kämpft sie noch weitere 7 Jahre, wird dann zu 100% anerkannt.

Auch das ein Thema, ein „Schauplatz“, der im verborgenen liegt und an dem wohl nicht ein einzelner zur Verantwortung gezogen werden kann sondern die ganze Gesellschaft eine Gelegenheit hat, sich zu hinterfragen, hinzuschauen. Wie weit sind wir damit heute? Lernen wir dazu? (Gedanken der Verfasserin, die sie sich nicht verkneifen konnte...)

An dieser Stelle des Gesprächs gehen ihre Gedanken zu dem großen Bruder, versetzt sich in diese Zeit, wie schwer das auch immer wieder für ihn war.

Der Große hätte ihrer Meinung nach auch dringend Hilfe gebraucht, ruft in der Sprache der Verhaltensauffälligkeiten um Hilfe. Ein sogenanntes „Schattenkind“, wie Geschwisterkinder öfter mal genannt werden. „Ich hätte wohl auch Unterstützung gebraucht, aber in der Situation ist man einfach so gefangen. Die Sorgen mit dem Geschwisterkind sind ja ebenso noch zu bewältigen.“ Geben und Tun bis zum Rand des machbaren.

Selbst während der Mutter-Kind-Kur, mit beiden Kindern, kann sie kaum entspannen, Kur hin oder her.

Max besucht einen integrativen Kindergarten. Sie erzählt fröhlich von dieser Zeit, ihrem „Charmbolzen“ Mäxchen. Im Anschluss besucht er eine Förderschule, hat zeitweise eine Schulbegleitung an seiner Seite. „Eine Zeitlang habe ich mir eingeredet, dass er nur `angepasst faul` ist und mehr lernen könnte. Aber wahrscheinlich war es doch gut so. Es war immer solange schwer, bis ich für mich begriffen habe und annehmen konnte, was ist. Dann hat sich der Blick verändert und ich konnte ihn als das sonnige und glückliche Wesen sehen, dass er ist.“

Wir wenden uns nochmal einer anderen „Ecke“ auf der Wiese der Vergangenheit zu:

Die Zeit, in der entschieden wurde, dass es besser ist, Max in eine Einrichtung zu geben. Da war er 15/16. Überzeugt hat sie eine Freundin, deren Sohn ebenfalls dort wohnt und ihr jetziger Mann, der auch einen Sohn mit schwerst mehrfach Behinderung in einer Einrichtung hat.

Jetzt lebt er mit 6-7 jungen Menschen auf dem Drews-Hof. Trotz der schönen Umgebung und den guten Bedingungen, ist die erste Zeit schwer, für beide. Die Erinnerungen sind schon verblasst. Es wird aber bald sein Zuhause.

Der Abstand verbessert auch das Verhältnis der beiden Brüder.

2011, 5 Jahre nach der Trennung hat sie ihren jetzigen Mann kennengelernt. Max ist 13, die Jungs freuen sich über die männliche Bezugsperson und „mochten ihn ja auch schon vor mir“.

Heute ist Max glücklich mit einer Arbeit im GaLaBau.

Wir holen noch mal tief Luft, bevor wir uns abwenden. Aufklärung wäre toll gewesen. Psychologische Hilfe/Begleitung für sie und den Älteren hätte sie gerne angenommen, gebraucht. Ist bis an den Punkt der Erschöpfung gelaufen, nicht wissend, wie man sich um sich selber ausreichend kümmert.

Später hat das Internet seine informativen Dienste geleistet, man konnte sich viel anlesen.

„Hilfe und Unterstützung war der Familien-entlastende Dienst und meine Eltern. Die vielen kleinen schönen Momente mit meinen Kindern. Bis heute. Mein jetziger Mann hat mir geholfen, an mir, an meiner Einstellung zu arbeiten.“, fasst sie zusammen.

Sie erwähnt nebenbei, dass ihr Sohn mit Übergewicht zu kämpfen hat. Eine Kur ist bereits beantragt und abgelehnt. Warum? „Weil immer erst alles abgelehnt wird; jetzt gehen wir zur Adipositas Sprechstunde und dann versuchen wir es nochmal.“ So kann sie heute mit Problemen umgehen. Souverän, kampferfahren...

Während ich schreibe, höre ich im Hintergrund ein gleichmäßige Brummen, die Geräusche des Mähdreschers, Bahn für Bahn fährt er über das Feld. Erntet. Meine Gedanken fühlen einen Vergleich zu Meike und ihrer Geschichte. Bahn für Bahn ist sie durch ihr Leben gefahren, hat gesät und geerntet, gebangt, hat das schlechte Wetter der Erschöpfung und der Hilflosigkeit durchlitten, hat Freuden, Mittel und Möglichkeiten eingefahren, sitzt hier heute ruhig, entspannt und gelassen, hat sich gefunden, ihren Frieden geschlossen mit allem, den Umgang gelernt. Hat allen Ärger aus sich herausgeholt und begraben. Dort zurückgelassen, auf dieser Wiese, diesem Feld und den Wegen der Erinnerung. Ist erfahren und auf eine besondere Weise reich durch ihr Leben.

Was für sie am schönsten ist? „Das ich meine beiden Kinder hab!“

Bonusmaterial ;-)

Nach der Trennung der Eltern hat der 8 jährige Max für seine Mutter die Idee, ein Schild im Vorgarten aufzustellen: „Mann gesucht!“

Max konnte man nie etwas vormachen. Er ist auf besondere Weise feinfühlig und weiß manche Dinge intuitiv und geht ebenso damit um. Als Beispiel erzählt Meike von der Begebenheit, als die geliebte Oma gestorben ist. Während sie noch darüber gegrübelt hat, wie sie es den Kindern sagt, kommt Max und nimmt es einfach wahr, es braucht keine Worte, keine Erklärung, tröstet die anderen. Gänsehautmomente.

Oder die Geschichte vom Einkaufen mit seinen Freunden: einer seiner Kumpel leidet unter Muskelschwäche und hat nach dem Einkauf den Weg zurück nicht geschafft. Max schultert ihn kurzerhand und trägt ihn zurück! Der buchstäbliche Riese mit dem großen Herzen!

 

Danke

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