Christian

 Ich komme gerade von einem Interview und versuche wie immer meine Gedanken und Gefühle zu sortieren, wahrzunehmen und wieder aufzutauchen aus diesem anderen Leben. Es ist schwer zu beschreiben, was das innen drin mit mir macht. Mir fällt mir ein Bild ein, dass ich auf meinem letzten Dänemark Kurztrip gemacht habe. Am Strand war eine Erklär-Tafel aufgestellt, wegen der Unterströmungen entlang der Küste. Da heißt es:

Wenn Sie beim Schwimmen in einen Sog geraten sind;

Schwimmen Sie MIT der Strömung, nie GEGEN die Strömung an, denn Sie werden von ihr sonst nach unten gezogen

Sobald die Strömung schwächer wird, in einem Bogen zurück an Land schwimmen.

 

So lässt es sich beschreiben, ein Sog, in den ich gerate. In den Sog der Geschichte, der Gefühle, die damit verbunden sind. Ich komme nicht dagegen an, schwimme ein Stück mit, bis die Strömung schwächer wird, der Alltag mich wieder einholt und ich in meinem eigenen Leben wieder an Land schwimme.

Ich sitze bei Katy, der Mutter von Christian, 7 Jahre alt, in einer hübschen, kleinen drei Zimmer Wohnung. Sie zeigt mir die Zimmer der Kinder und wir sind schon mitten im Gespräch. Christians Diagnose ist frühkindlicher Autismus, plus ein paar anderer „Defekte“. Es ist das erste, das mir auffällt, immer wieder spricht sie von der `Krankheit`. Es sind nicht ihre eigenen Worte. Es sind die Worte von Ärzten und Diagnostikern, wie sich später herausstellt.

Er hat noch eine ältere Schwester (10) und einen jüngeren Bruder (2).

Die Geschichte der Familie beginnt in Ungarn. Dort kommt die Tochter zur Welt. In ein Weltbild, in der ein Junge vom Vater gewünschter ist als ein Mädchen. In der berufliche Karriere einen hohen Stellenwert hat. Sehr hoch.

2 Jahre später kommt die Familie nach Deutschland und bekommt ein zweites Kind. Exakt 3 Jahre, 3 Monate später, beide am 13. des Monats geboren. Zur Freude des Vaters ein Junge. Christian. Die Freude war groß, das Glück schien vollkommen.

Bis Christian ein Jahr alt war. Körperlich ist er ganz gesund, hat nur noch nicht wirklich viel gesprochen. „Jeder hat seine Zeit“, heißt es.

Mit einem Jahr bekommt er die zweite MMR Impfung (Mumps, Masern, Röteln), obwohl er an diesem Tag krank war. Der Verdacht, dass die Impfung irgendwie etwas mit dem Autismus zu tun hat, bleibt noch lange in der Luft hängen. Ändert ja aber nichts.

Der Vater hat das starke Gefühl, dass mit dem Kind „etwas nicht stimmt“. Der Kinderarzt beruhigt, wiegelt ab, es sei alles in Ordnung. Christian ist anderthalb. Zeigt die für Autisten typischen Finger und Handbewegungen, dieses wischeln und schütteln. Auch das Laufen fällt ihm schwer, er stürzt viel. Das alles und das er noch nicht spricht wird mit Entwicklungsverzögerung erklärt, nicht besorgniserregend.

Mit 2 Jahren der Besuch beim Arzt zur U7. Dieses mal stehen die Zeichen anders. Er nimmt keinen Blickkontakt auf, „arbeitet“ nicht mit.

Die Familie wird ohne weitere Aufklärung in die Kinderklinik Pelzerhaken überwiesen. Die vermutete Diagnose des Kinderarztes geht kommentarlos per Post direkt dorthin.

Ein halbes Jahr später findet dann die Untersuchung dort statt, Christian ist zweieinhalb. 4 Wochen stationäre Aufnahme folgen. Die Eltern teilen sich die Zeit, jeder übernimmt zwei Wochen.

Diagnose: frühkindlicher Autismus. Von Seiten der Kinderklinik zeigt man sich überrascht, dass die Eltern damit 0,0 anfangen konnten oder davon wussten.

Katy spricht von der „unbekannten Krankheit“, sie und ihr Mann wissen überhaupt nichts von Autismus – nur aus dem Film RAINMAN..

Ein Moment, in dem die Wolken brechen. Es regnet Erinnerungen und Gefühle, ich kann die Bilder vor ihrem inneren Auge fast sehen.

Sie wussten nichts damit anzufangen, wollten wissen, welches Medikament denn hilft. Weil es wurde davon gesprochen, dass er krank ist. Und wenn man krank ist, gibt es ein Medikament und man kann wieder gesund werden.

„Sie waren dort sehr negativ. Sie sagten, Christian würde nie sprechen können, nie richtig laufen, nie schaukeln, nie schwimmen, nie Fahrrad fahren, wird nie auf die Toilette gehen. Er sei zu 80-90 % behindert, kann nix.“

Bekommen gesagt, sie können Christian gleich da lassen, erst gar nicht wieder mit nach Hause nehmen, weil „dieses Kind ist total „kaputt“.

Die Aussicht, ihn in eine Wohneinrichtung zu geben erleichtert den Vater, er sieht es als eine gute Lösung des „Problems“. Ich merke, dass sie versucht, auch mit seinen Augen zu sehen, der Blick aus der Perspektive einer Welt, in der Menschen es als „unter der Gürtellinie“ empfinden, ein behindertes Kind zu haben. Wünscht sich, er könnte ihre Perspektive, ihre Gefühle wahrnehmen. Ihre Perspektive ist die einer Mutter. Tränen ersticken die Stimme. Christian ist 3. Noch so klein. Katy wehrt sich, damit betritt sie eine weitere Kampffläche, es beginnt eine Zerreißprobe für die Ehe. Sie sieht sich vor der Wahl, entweder die Ehe oder das Kind. Dieser Kampf wird zunächst dadurch entschieden, das die Klinik sagt, sie müssen das zusammen machen, alleine ginge es nicht. Und da ist ja auch noch die Tochter. Er entscheidet sich für die Familie, bleibt.

Christian ist in dieser Phase sehr aggressiv, das Zusammenleben sehr schwer. Er leidet unter vielerlei Ängsten, mit denen der Umgang gelernt werden will. Eine davon ist das Autofahren. Kann man sich leicht ausrechnen, dass es die notwendigen Wege nicht leichter macht.

Schlafprobleme machen das Leben ja schon lange schwer. Er schläft im Kindergarten und ist nachts wach. Ein Mittel zum Schlafen schafft ein wenig Verbesserung. Von erholsamen Nächten mit ausreichend Schlaf ist man allerdings weit entfernt.

Katys Gesundheit leidet. Die Tage, Wochen und Monate hinterlassen auch körperliche Spuren, sie verliert stark an Gewicht. Ihr Arbeitsverhältnis leidet, es gibt kein Verständnis für eine übermüdete Mutter eines behinderten Kindes. Ihr wird geraten kündigen. Arbeitet unter großen Spannungen und Mobbing weiter. Erkämpft mit Hilfe des Betriebsrates Versetzung.

Erschwerend kommt hinzu, das Christian den Vater nicht akzeptiert. Erschwerend für Katy. Für ihren Mann. Die Ehe. Ihr Mann arbeitet viel, hadert auch mit auftretenden gesundheitlichen Problemen, hat kaum Zeit und das Monster der Übermüdung verbreitet seinen Schrecken. Die beengte räumliche Situation macht es auch nicht gerade leichter.

Sie wuppt nebenbei Therapien und Integrationsgruppen. Manche sind gut, andere schlecht. Organisiert Begleitung und autistische Hilfen. Manche Hilfreich, andere nicht.

Sie eignen sich Wissen an, suchen nach Heilungsmethoden. Sie veranlassen eine Gen-Untersuchung, diese ergibt, dass beim 16. Chromosom ein ganz kleines Stückchen fehlt. Betrifft die Entwicklungsbereiche von Kommunikation, Sprache und Intelligenz.

Von der behandelnden Ärztin wird ihr abgeraten abgeraten, weiter zu suchen. Hängen geblieben sind Aussagen, dass wenn alle autistischen Kinder geheilt werden würden, müsse sie ja ihre Praxis schließen müssen. Ich kann insgeheim nur hoffen, dass es ein seltsamer Anflug von Humor war.

Die Eltern forschen trotzdem weiter. Probieren. Investieren. Sauerstofftherapie in Ungarn. CBD. Christian schluckt viele Antibiotika und Vitamine in Tablettenform. Gegen die vielen Entzündungen.

Während sie darüber spricht, gewinnt man den Eindruck, dass wäre alles lange her, ein Schatten der Vergangenheit. Ich muss mir ins Bewusstsein rufen, dass wir da eigentlich fast noch über die Gegenwart reden. Die Letzten 3-5 Jahre. Alles gerade erst geschehen.

Phasenweise bekommt er Hörgeräte, weil durch die vielen Ohrenentzündungen eventuell Hörprobleme hinzugekommen sind. Nach einer Weile drängt sich der Verdacht auf, dass es nicht ausschließlich um die Hörprobleme und das Wohlbefinden des Kindes geht, sondern auch um Geschäftemacherei. Fakt ist, das Christian heute ganz wunderbar ohne Hörgeräte zurechtkommt.

Dann nehmen wir einen kleinen Abzweig in die Welt mit dem Geschäft Hoffnung. Sie erzählt mir von der Idee einer im Internet angebotenen Stammzellentherapie für 20.000 Euro, die Autismus „heilen“ soll. In Indien. Sie erkennen, dass das keine gute Idee ist. Aber die Idee lässt sie nicht los. Finden einen Anbieter in Österreich und denken wirklich intensiv darüber nach. Aufwand, Kosten und Skepsis sind enorm hoch, es kommt nicht dazu.

2020 kommt der kleine Bruder zur Welt. Christian ist 5. Für Katy steht der nächste Kampf an: Für ihren Mann steht außer Frage, dass Christian nun „weg“ geht, in eine Einrichtung. Weil, mit drei Kindern würde man es nicht schaffen. Wieder sieht sie sich vor eine unmögliche Wahl gestellt: entweder das Baby oder Christian.

2000 Euro werden investiert für eine genetische Untersuchung des Ungeborenen.

Christian bleibt. Unter einer Option: seine Kommunikationsform zu der Zeit ist die körperliche Aggressivität. Richtet er sie auch nur einmal gegen den kleinen Bruder, kommt er weg. Es werden schon Wohnheime besichtigt. Sie schließt ein Wohnheim für später nicht aus, möchte aber, dass Christian sich wohlfühlt. Und der zeigt deutlich, was er von den besichtigten Heimen hält. Das Thema Medikamentengabe kommt in diesem Zusammenhang hinzu, verunsichert Katy, bestärkt sie aber auch in ihrem Gefühl, dass sie Christian Zuhause behalten will.

Er haut das Baby nie. Bis heute. Die beiden teilen sich ein Zimmer. Normale Geschwisterstreitigkeiten um Spielzeug. Ein eigenes Zimmer für jeden wäre toll.

Wie geht es eigentlich der großen Schwester in der Zeit? Die Aufmerksamkeit liegt woanders.

Seit einigen Wochen hat die Familie Unterstützung von den Großeltern, die aus Ungarn zuwandern. Sie haben gerade die Wohnung neben an bezogen.

Wie ist es in der Öffentlichkeit? Sie sind viel unterwegs, unternehmen viel. Ja, es ist ein Thema, die „Öffentlichkeit“.

„Manchmal laufen wir einfach davon, weil es so unangenehm ist, wenn er schreit, weil er irgendetwas nicht versteht.“ Laufen davon, vor den Blicken der anderen. Wutanfälle in der Öffentlichkeit sind ihr peinlich, sie versucht und macht dann alles, damit er bloß aufhört zu schreien. Obwohl manchmal Verständnis kommt, sobald die Menschen sehen, dass er „krank“ ist. Hm. Immerhin?

Christian entwickelt sich zu einem totalen „ich-bring-dich-zum-Staunen“-Paket. Scheint sein großes Talent zu sein, denke ich und muss schmunzeln.

Von einem auf den anderen Tag nimmt er den Löffel und isst selbstständig. Versteht und überrascht immer wieder mit Fähigkeiten, die man nicht vermutet. Amüsiert erzählt sie mir eine Anekdote über das Kühlschrankschloss, dass ihr Mann angebracht hatte, damit Christian den Kühlschrank nicht leert. Hat nicht lange gedauert, bis er das Schloss „knacken“ konnte, ohne dass ihm jemand gezeigt hat, wie das geht… zur großen Verwunderung aller!

Auf die Toilette wird er nie gehen, wurde gesagt – heute ist er trocken.

Fährt Fahrrad. Schwimmt. Hat Freunde. Er lernt schnell, hat eine grandiose Merkfähigkeit. Beginnt immer mehr zu sprechen, ein paar Worte, einfache Sätze. Kann zuordnen, hat ein Verständnis für Zahlen und Mengen, für Rhythmus. Und wer weiß wofür noch! Bin mir sicher, er wird es uns zeigen, wenn er die Möglichkeit bekommt. Und wir ihn nicht behindern.

Therapeutinnen rieten zu strengen und festen Strukturen – sieht die Mutter ein wenig anders, wechselt Plätze am Esstisch, im Auto, geht immer andere Wege. Christian akzeptiert heute viele Abweichungen von den „festen Strukturen“. Er sucht und fragt nach seinen Geschwistern, wenn sie noch nicht da sind.

Er liebt die Schule, wartet morgens auf den Schulbus, ist immer im Bilde über den Wochentag und was an den entsprechenden Tagen in der Schule so ansteht.

Mag Körperkontakt, der Autisten auch eher abgesprochen wird.

Nur Kunst und basteln, das ist so gar nicht Seins. Ich muss lachen, wenn ich an sein Gesicht denke, wenn wir so tolle Sachen wie Knete oder „Schleim“ hergestellt haben oder uns mit Fingerfarben austoben, aber wer mag schon alles?

Sie zeigt mir die Baby Fotos, du meine Güte wie herzig, was für ein kleiner Knopf! Mit Wuschelkopf. Heute sind die Haare kurz, weil er sie sich oft ausreißt. „Auf den Fotos sieht man nicht, das er krank war“, sie spricht fast eher zu sich selbst.

Ich schwärme, so ein wunderbares Kind. “Ja manchmal.“, sagt sie leise. Und ich merke, ich habe keine Ahnung.

Die Kämpfe sind in diesen Tagen einfacher, Christian versteht mehr, wird ruhiger. Die Großeltern nebenan, können helfen, bringen Entlastung. Es verschafft etwas mehr Platz. Zeitlich und räumlich. Die Beziehung zum Vater wird langsam besser, sie fahren viel Zug zusammen, Christians große Leidenschaft.

Für die 4 verschiedenen Facebook Gruppen (deutsch – ungarisch) in der sie ist hat sie nicht viel Zeit, aber liest mit.

Dann kommt Bewegung ins Haus, die Tochter kommt von der Schule. Geht in die 4. Klasse. Erzählt offen und freundlich von ihrem Tag.

Wenig später kommt ihre Freundin zum Spielen vorbei, bringt was für Christian mit.

Die Zeit ist verflogen, ich merke, dass ihr Alltag ruft. Kenne ich ja auch nur zu gut! Man schwangt dann zwischen den Pflichten die immer lauter rufen und schon mit den Konsequenzen bei nicht Erfüllung drohen und der leisen Stimme, die sagt, dass das auch ok ist, wichtig ist, schön ist, Freude macht, eine willkommene Abwechslung ist.

Ich hole zu der Frage aus, die mir schon lange in den Gedanken ist: Woher nimmt diese Frau ihre Kraft?

Die Antwort kommt ohne zu zögern aus tiefsten Herzen, da ist nicht der geringste Raum, um zu zweifeln: Liebe! Ich meine, dass ist es, was sie von der ersten bis zur letzten Sekunde mit jeder Faser ausstrahlt: Liebe!

„Ich lebe wegen meiner Kinder. Ich liebe sie, keinen mehr und keinen weniger. Und ich spüre, dass Christian mich liebt.“

Ja, und Christian spürt, wie jemand ist, tief drinnen im Herzen. Man kann nichts vor ihm verbergen. Und zu spüren bekommt man das auch!!

Noch ganz meinen eigenen Gedanken hinterher hängend, erzählt sie noch vom letzten Jahr, da musste sie ins Krankenhaus und wie schwierig das dann mit Christian ist, wenn sie nicht Zuhause ist. Warum sie im Krankenhaus war, frage ich.

Brustkrebs, eine aggressive Form, der schon gestreut hat. Gab eine große OP. Reha hat sie nicht wahrnehmen können, es gibt keine Möglichkeit, Christian mitzunehmen und vier Wochen ohne Christian, bzw. ohne sie geht nicht. Sie lacht. Versprüht Lebensfreude und -mut. Die Nebenwirkungen der Tabletten, die sie noch nehmen muss, machen sie schläfrig, meint sie. Deswegen nimmt sie sie abends. Einfach so. Aber wohl auch nicht so einfach. Seitdem steht Christian manche Nacht auf, kontrolliert, ob die Mutter da ist.

Mir hat es jetzt endgültig die Sprache verschlagen. Wie schafft man das alles? Über Jahre? Sie erklärt, sie hat früher viel, viel Sport gemacht, war unter anderem Aerobic-Übungsleiterin. Hat mich vorbereitet für Christian, sagt sie. Sport vermisst sie, geht zurzeit einfach nicht.

Ihr größter Wunsch: Das der Mann seinen Sohn akzeptiert und liebt. Das er fühlt. Das die Beziehung sich verbessert. Und eventuell zwei Zimmer mehr. Womit man Ihr persönlich eine Freude machen könnte? Bekomme ich nicht wirklich heraus bei diesem Besuch. Die Kinder sollen gesund sein!

Es klingelt erneut. Christian kommt nach Hause. Ich verabschiede mich.

 

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