Sandra

 Juni 2022. Heute besuche ich eine Kollegin. Sie ist für mich einer von diesen Menschen, bei denen etwas in der Luft liegt, spürbar, wenn man an ihnen vorbeigeht und ihnen in die Augen blickt.

Wenn sie bei Konferenzen spricht sind ihre Gedanken klar, ihre Sätze auf den Punkt gebracht und jedes einzelne Wort ist Messerscharf richtig formuliert. Ich sitze dann immer und kann nur denken, „Ja. Richtig.“ Sie hat immer eine Meinung zu den Themen, scheint darüber gar nicht wirklich nachdenken zu müssen, wie sie dazu steht – weil sie einfach STEHT! Zu sich, wie sie ist.

Das ist einer der Gründe, warum ich sie bewundere und sie zu meinen persönlichen Lieblingskolleginnen an der Schule zähle, obwohl wir bisher noch gar nicht wirklich eng miteinander gearbeitet haben.

Der Weg zu ihrem Haus führt zwischen Feldern entlang auf ein kleines Dorf, sie erwartet mich in einem grauen, schwedischen Holzhaus, innen wunderbar hell und freundlich, Wohlfühlatmosphäre, wir entscheiden uns aber doch für draußen. Wenig deutet darauf hin, dass hier jemand mit einer Einschränkung oder Behinderung wohnt. Mit fallen die bodentiefen Türschwellen auf. Ich weiß schon, dass sie den Sommer lieber mag als den Winter, weil die Kleidung und das Schuhwerk leichter sein können und es sich damit im wahrsten Sinne des Wortes leichter lebt – jedes Gramm zählt.

Sandra hat seit ihrer frühesten Kindheit eine spinale Muskelatrophie.

Bis zu ihrem 19. Lebensjahr eine Lebenserwartung von 19 vorhergesagt bekommen. Dann wurde sie 20 und 21 und 22 und ist heute 54. Sonderschullehrerin, ehrenamtlich engagiert in der Hospizarbeit und in der DGM (Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke)

Sie sagt mir, dass sie es wunderbar findet, normale Lebensgeschichten als etwas besonderes zu erkennen. Normal. Das Wort kling nach.

Aber mal von Anfang an. Sie hat spät laufen gelernt, ist immer wieder gestürzt. Ihre Mutter folgt ihrem starken Gefühl, dass da „irgendwas anders“ ist und lässt auch gegen die Argumente des Kinderarztes, der sie beruhigt, nicht locker. Ein Glück für Sandra, denn es ist eine glückliche Ausnahme, dass es so früh erkannt und diagnostiziert wurde. An der Uniklinik in Lübeck treffen sie auf Professor Neuendorfer, der sich gerade mit genau diesem Thema auseinandersetzt und tun damit den besagten Glücksgriff. Muskelerkrankungen und Menschen, die sich damit auskennen, waren bis dahin - und sind es auch heute noch – eher selten.

Ab da geht sie zwei mal in der Woche zur Physiotherapie, bis sie 20 war bei ein und derselben Therapeutin. Übungen wurde entwickelt, Umstände angepasst.

Sie kämpft sich durch die normale Grundschule. Betritt das große Schlachtfeld des Vergleichs und der Bewertung:

„Wie kann man eine Note geben, ohne das der betreffende…“, sie beendet den Satz nicht, ihre Gedanken bleiben im Sportunterricht hängen, wandern durch die ganze Schulzeit. Zu Mitschülern am Gymnasium und Aussagen wie: „Die kann ja viel weniger als ich, wieso hat sie dieselbe Note?“

Erinnert die Herausforderung, die die so wenig passende Situation für die Lehrkräfte darstellte.

Nach der Grundschulzeit sollte es einen Wechsel auf eine Schule für Körperbehinderte geben. Das wollten die Eltern nicht. Setzen sich durch. War ja nur der Sportunterricht und das Treppensteigen, der für den Besuch des Gymnasiums geregelt werden müsste.

PS: hat übrigens bis zum Abitur nicht funktioniert, dass zum Beispiel der Klassenraum einfach unten war, ohne Treppen erreichbar. Wäre möglich gewesen, wurde nicht möglich gemacht.

Bat später die Lehrkräfte beim tragen der Tasche zu helfen. Das hat es einerseits erschwert, andererseits dazu geführt, dass sie sich nie als besonders gefühlt hat, ihre Einschränkung wurde einfach übersehen.

Andererseits nahmen viele einfach an, dass die körperliche Einschränkung auch mit einer geistigen einhergeht. Deswegen leistet sie doppelt, strengt sich mehr an, kompensiert die körperliche Leistungsfähigkeit erfolgreich mit „geistigem“ Wissens-Erfolg.

Sie hinterfragt die Dinge kritisch und formuliert ihre Meinung klar und deutlich. Das konnte sie immer schon, steht schon im Grundschulzeugnis. Unerschrocken.

„Was soll mir denn passieren??“ ist ihr Fundament, auf dem sie ihren Mut baut.

So wurde viele Jahre die Beeinträchtigung einfach Beiseite geschoben. Nach der Schule kam ein soziales Jahr, dann die Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin. Der Berufswunsch war von Anfang an klar. Das Studium in Kiel schließt sich an. Auch da, Sätze bei der Einschreibung wie „ob sie das jetzt noch machen wolle, nicht jetzt einfach lieber ihr Leben genießen? Statt dessen diesen Stress auf sich nehmen?“

„JA, möchte mir gerne das „antun“!“ Was wohl gemeint war, war der Stress, dass es keinerlei angepasste Umstände gab. Keine Barrierefreiheit. Nicht mal ein Behindertenparkplatz. Nichts. Sie ist weit und breit die einzige, mit äußerlich sichtbaren Einschränkungen.

Ist das wohl heute inzwischen anders? Ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit mal nachzufragen.

Ihr Leben ist schon ein anderes. Klar, jeder lebt ein anderes Leben. Aber es ist doch noch mal anders als anders. Schafft mehr Gelegenheiten bewusster zu sehen. Anders zu sehen, zu denken, wahrzunehmen.

Sie erzählt mir von der schwierigsten Zeit, der Pubertät. Mit dieser Diagnose; es wurden noch Lebenserwartungen „so raus gehauen“, und die lautete 19. In dieser Zeit wurde ihr vieles bewusst, sie hat sich Wissen angelesen, Gespräche geführt.

„Eine Zeit, da habe ich nur bis 19 gedacht. Und so gelebt.“

Dann kam ein Punkt, da springt ein Schalter in ihr um. Keine Ahnung warum. Springt von: Lebenserwartung 19 Jahre auf „was die mir sagen, warum meinen die zu wissen … natürlich ist das nicht so!!!“ Hat sich entschieden. Für das Leben.

Mich interessiert, wie sie ihre Eltern wahrgenommen hat.

„Meine Mutter ist ausgezogen, als ich 14 war, habe dann mit meinem Vater in einer Art Wohngemeinschaft gelebt.

Ich habe meine Eltern so erlebt, dass sie viel zu jung waren, um damit umzugehen, sie waren ja auch sehr jung (Mutter 18, Vater 19) und dann auch noch ein Kind mit Behinderung in der damaligen Zeit. Sie waren überfordert, wollten, dass ich eigentlich alles ganz normal mitmache. Haben mich machen lassen, mir nichts abgenommen – auf der einen Seiten wollten sie es nicht, wollten, dass ihr Kind ein möglichst „normales“ Leben führt und auf der anderen Seite haben sie es einfach wohl nicht geschafft. Ich habe mir öfter mal gewünscht, sie hätten mich mehr getragen, mich zum Beispiel irgendwo abgeholt oder hingefahren, Dinge für mich geregelt. Man hat mir nie was abgenommen. Finanziell keine Unterstützung. Ich hatte Jobs während des Studiums, die auch ohne Einschränkung eine Zumutung und schwer zu tragen gewesen wären. Nachtschichten in der Taxi Zentrale.“

Überhaupt nichts, worauf sie sich hätte stützen oder auch nur für einen Moment mal hätte ausruhen können. Selber laufen. Mit Muskelatrophie. Baut sich innere Mauern, die ihr Halt geben.

Es ist eine Gratwanderung, sagt sie; ich war halt nicht dieses typisch behinderte Kind, das irgendwie gepuffert wird.

Habe das Gefühl, sie spürt noch die schwere und die Anstrengung aus diesen Jahren, sieht aber auch, wie hart und stark sie das gemacht hat. Sagt mit Absicht „hart“. Weil da auch das Gefühl ist: „Mich fängt sowieso keiner auf. Habe mir eigene Mauern zum festhalten gebaut. Die haben mich Leben lassen. Die reißt man ja auch nicht mal eben so ein. Wenn ich nicht so gewesen wäre… weiß ich nicht, was dann passiert wäre.“

Frage mich, warum nicht generell barrierefrei geplant wird, (be)hindert ja alle anderen nicht in ihrem vorankommen. Hm.

„Ich hätte mein Leben lang hadern können. Warum ich das nicht getan habe? Weiß ich gar nicht.“ Lacht. Berichtet mir von dem Abenteuer Führerschein machen. Anfangs scheinbar nicht möglich. Noch nie dagewesen. Braucht ja ein spezielles Auto. Eine Antwort auf die Frage der Finanzierung. Welche Fahrschule macht das? Fahrlehrer, die instruiert werden mussten. Gas und Bremse für einen Fahrschullehrer in ihr eigenes Auto wurden eingebaut. Wo findet man einen Prüfer, der unter diesen absolut einmaligen, neuen Bedingungen eine Prüfung abnimmt, usw. Nur ein banales Beispiel von so, so vielen.

Keine Vorbilder. Keine Bücher. Kein Internet. Pionierarbeit. Heute ist alles ein wenig machbarer.

Auch die Selbsthilfegruppe ging damals erst los. Rät, so was immer in Anspruch zu nehmen. Mentale Hilfe. Praktische Hilfe.

Kein anderer kann sich wirklich so einfühlen, man muss drinstecken.

Erinnere, DGM!

Denn Worte und Austausch können helfen. Verbinden. Machen Mut. Stärken: Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.

In der Erinnerung taucht ein besonderer Mensch auf, Dieter, ein Pädagoge aus einem Freizeitzentrum, der war für sie „bewegend“, hatte für sie Bedeutung. Als Mensch, weil der war so, wie er war. Weil er sie so angenommen hat, wie sie war.

Dann kam der Schritt vom Studium in den Beruf. Referendariat in Plön.

„Der Job, den ich jetzt habe, der ist eigentlich zu mir gekommen. So war das.“ Unbefristet. „Lief“ alles.

„Mir war nicht bewusst, dass es auch für mich gut war, diese Wahl an einer Förderschule zu arbeiten, weil die Umstände in diesem Arbeitsumfeld auch angepasster waren. Was z.B. Barrierefreiheit betrifft.“

Aber sogar begegnet sie der vertrauten Situation, dass ihre Beeinträchtigung in den Hintergrund gerät, nicht so gesehen wird, weil sie ja so vieles mit scheinbarer normaler Leichtigkeit schafft. Nach kaum einem Jahr, war es fast selbstredend, dass sie eine erste Klasse übernehmen sollte. Eine Lehramtsanwärterin nebenbei betreut. Mhm, ist klar. Vielleicht, weil sie den Eindruck macht, dass sie einfach alles schafft. Eine Schulleitung musste da hinein wachsen. Sie selbst hat gelernt, anders zu kommunizieren.

„Ja, ich bin ein positiver Mensch, aber das heißt nicht, dass es leicht ist. es sieht nur so aus, als ob es leicht ist. Ist es aber nicht.“ Wieder ein Drahtseilakt. „Ich halte mein Leben nicht für leicht.“

Ich merke, es ist wohl auch anders herum: Das Leben ist nicht leicht, dass heißt aber nicht, dass man nicht ein positiver Mensch sein kann!! Hat ja keinerlei Nachteile!

„Ich versuche es immer erst alleine zu schaffen, ohne von außen Hilfe in Anspruch zu nehmen. Klar, wenn es nicht geht, dann frage ich auch. Aber ohne das ich was sage, um Hilfe bitte… so kenne ich das ja nicht. Aber wenn da Hilfe von außen käme, jemand, der mir das von sich aus anbietet, …“

Annehmen muss dann wahrscheinlich noch geübt werden.

Sandra arbeitet in der Schule mit einer Arbeitsassistenz, ist damit die einzige Lehrkraft in Schleswig-Holstein . Weil? Kann man nur spekulieren. Vielleicht wird davon ausgegangen, wenn man so eingeschränkt ist, dass man eine Arbeitsassistenz bräuchte, man nicht mehr arbeiten kann: Dass es dann zu anstrengend ist. Das System müsste sich ändern.

Die meisten Betroffenen arbeiten nicht, wenn dann Teilzeit, im Büro oder Homeoffice und die wenigstens mit Assistenz.

Gerne würde sie sich mal austauschen, mit jemandem in einer vergleichbaren Situation.

Dieses intensive Wahrnehmen jedes einzelnen Moments, das bedingungslose annehmen und leben im Hier und Jetzt ist bei ihr sehr ausgeprägt.

„Was ich körperlich nicht kann (Spaziergänge, Sport, Gartenarbeit), verschafft mir Zeit. Die fülle ich eben mit anderen Dingen, die körperliche Bewegung verlagere ich auf meine Bewegung im Kopf.“ Deswegen interessiert es mich auch nicht, was morgen ist. Wenn ich morgen sterben sollte, dann möchte ich das auf meinem Grabstein steht, ich habe jeden Tag intensiv gelebt!

Dankbarkeit für den Moment und für das, was gerade gut ist. Über manche Dinge, kann ich mich im Leben gar nicht mehr aufregen. Ohne meine Körperbehinderung wäre ich nie so geworden. Und das ist das Geschenk an der Situation. Manchmal kommen schon Gedanken, was wäre gewesen, wenn. Aber in diese Tiefe, da wäre ich niemals hingekommen.“ Totale Annahme von dem was ist.

Glaubt nicht, dass es irgendwie weitergeht. Nach diesem Leben. Heute. Hier. Jetzt. Ohne die Hoffnung auf ein anderes Leben.

„Ich will das ja jetzt! Ich will das ja nicht irgendwann…“ dieser Ort der Hoffnung auf ein besseres Leben der ist ihr zu weit weg.

Wir lachen viel, es sind gute Gedanken, tiefe und doch leichte, fröhliche, freie Momente.

Ich sitze hier gerade und begreife ein Stück von dem Wunder in dieser Geschichte, in ihrer Geschichte und es kribbelt den ganzen Rücken herunter. Wie unfassbar, als junger Mensch gesagt zu bekommen, dass man mit 19 sterben wird und sich dann dazu zu entschließen, es nicht zu tun. Sondern zu Leben. Jeden einzelnen Moment. Im hier und im jetzt. Nicht wegen gestern, nicht für morgen. Nur heute. Und jetzt darf ich ihr in diesem Heute gegenübersitzen. Der Gedanke weitet sich. Breitet sich aus zu einem Gefühl. Dieses geheimnisvolle, twinkelnde, glitzernde, warm schimmernde Gefühl der bedeutsamen Momente im Leben. Für die es keine richtigen Worte gibt. Von denen man aber nichts sicherer weiß, als dass sie etwas ausmachen. Etwas bedeuten. Unendlich wertvoll sind.

Im Hinausgehen fallen meine Augen auf eine Art Girlande aus Zitaten, ich nehme eines zwischen die Finger und lese:

Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart,

der wichtigste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht

und das notwendigste Werk ist immer die Liebe!

 

 

Danke

Kommentar schreiben

Kommentare: 0