Jaro

 

 Sommerferien 2022. Ich bin bei Rabea und dem fast 10 jährigen Jaro.

 

Einmal mehr treffe ich auf einen überaus positiven, fröhlich-freundlichen Menschen, mit dieser besonderen Ausstrahlung.

 

Trotz – oder vielleicht wegen all der Umstände, Erfahrungen und Erlebnisse die sie zu erzählen hat.

 

Die manchmal bis an den Rand der Erschöpfung und darüber hinaus gegangen sind und der verständlichste Grund der Welt sein könnten, warum man stattdessen eher einen müden, sorgenvollen, ja vielleicht sogar traurigen Menschen erwarten könnte.

 

Nun denn, anhalten, mitgehen, wahrnehmen, aufnehmen, staunen.

Jaro spielt auf dem Wohnzimmerteppich, wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich und befinden uns schon mitten im Thema.

 

Urlaub mit einem behinderten Kind.

 

Die Familie gehört zu Deutschlands Dauercampern, haben inzwischen 2 Wohnwagen auf einem Campingplatz an der Ostsee. Einen davon nimmt Jaro in Beschlag, die zwei Brüder und die Eltern den anderen.

 

Jaro hat keinen regelmäßigen Wach-Schlaf-Rhythmus.

Als er kleiner war, standen Bett inklusive Heizung im Vorzelt.

Hat aber in der Nacht alle wach gehalten.

 

 

Also musste eine Lösung her – eine von vielen weiteren, damit das Campen weiterhin möglich sein soll.

Der Platz ist inzwischen behindertengerecht umgebaut, so vieles wurde mit großer erfinderischer Kreativität passend gemacht. Eigentlich Dinge des Alltags.

 

Einfach mal woanders hinfahren?

 

Ha. Einfach, das wär schön. Wir lachen, wahrscheinlich jeder mit seinen eigenen Bildern im Kopf.

 

Obwohl, dieses ist Jahr geplant, mal das Nachbarland Dänemark kennenzulernen.

Auf Wunsch des großen Bruders.

 

Jaro hat zwei Brüder 12 und 6 Jahre alt.

 

Schwups sind wir beim Gegenteil-Thema zu den Ferien:

 

Schule.

 

Ich fange mal hinten an, mit der guten Nachricht.

 

Ja, Jaro geht zur Schule, in Kiel Schwentinetal, seit einem Jahr besucht er dort das Internat.

In der Woche ist er dort, in den Ferien und am Wochenende Zuhause.

 

Gute Lösung? Oh ja, eindeutig! Zum jetzigen Zeitpunkt sind alle happy damit.

Einfache Entscheidung? Oh, nein, auf gar keinen Fall!

 

Der schwerste Punkt bei der Entscheidung für oder gegen ein Internat, war der:

„Ich, wir, kennen ihn am besten, nehmen seine Bedürfnisse wahr, auch ohne Worte. Werden die anderen ihn verstehen? Seinen Bedürfnissen gerecht?“

 

Der Entscheidungsprozess ist hochgradig intensiv. Rabea geht während der Überlegungen ganz hart mit sich um. Sie beschreibt die Gedanken, die sie (mit-)bestimmen:

 

„Wenn ich Jaro jetzt abgebe, dann bin ich als Mutter nichts mehr wert. Dann habe ich mein `Mutter-Dasein` verloren. Ich war nicht mehr Rabea, ich war nur noch die Mutter eines behinderten Kindes.

 

Ich war keine „andere“ Mutter mehr, keine Ehefrau mehr, keine Hausfrau, Freundin usw.

Ich habe all die Jahre nicht gearbeitet – meinte, wenn ich ihn jetzt ins Internat gebe, dann habe ich keine „Ausrede“ mehr, nicht arbeiten zu gehen.

 

Das hat mir auch Angst gemacht. Ich habe mich komplett über ihn definiert.“

 

Die Entscheidung war ein Prozess, bei dem der Weg durch viele Kleinigkeiten geebnet wurde.

 

Wie zum Beispiel die Frage einer Freundin, was denn nächstes Jahr anders wäre?

Auch wird es höchste Zeit, das Schlafkonto mal wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen.

 

Emotional Anlauf genommen, würde ich sagen.

 

Wenngleich es dann ein recht kurzer Anlauf war. Ging dann doch schnell.

 

Und das war gut so, denn es waren ja schon 2 Jahre Schule vorausgegangen.

Der erste Einstieg in die Schule in Nortorf in einer Schule für Körperbehinderte war eine 2 Jahre andauernde Katastrophe.

 

„Barbara, ich kann dir ein ganzes Buch schreiben über die zwei Jahre, was alles so vorgefallen ist. Alles wird schwierig gemacht. Nichts angepasst.

Schule war ein einziger Kampf und Krampf.

An arbeiten gehen gar nicht zu denken unter solchen Bedingungen.“

 

Spuren

 

Die Gedanken gehen noch ein Jahr zurück.

Jaro ist 5.

 

Da glich sie eher einer lebendigen Maschine, sagt sie.

Die verzweifelt um sich schlägt und ihre Liebsten verletzt.

 

Der Raum füllt sich fühlbar mit Emotionen. Es tut ihr heute noch so leid.

 

Damals bekommt sie einen seidenen Faden Hilfe zu greifen, psychologische Unterstützung.

 

Die Diagnose: Erschöpfungsdepression.

 

Immer wieder spricht sie davon, dass sich diese ganzen „Entwicklungen“, „Geschehnisse“ und Entscheidungsprozesse geführt anfühlen, so schwer es auch jeweils war.

 

Wenn sie zurückblickt, dann sieht sie die vielen Spuren, die neben ihrem Weg mit ihrem Kind zu erkennen sind.

Sie gibt mir ein paar Beispiele:

 

Da ist der Kupferhof*, eine Kurzzeitpflege.

Dort bieten sie Ferien für behinderte Kinder und ihre Familien.

Von verschiedenen Seiten werden sie immer wieder darauf aufmerksam gemacht.

 

Aber, da ist diese unangenehme, penetrante Stimme im Kopf: „Was sind wir denn für Eltern, wir geben doch unser Kind nicht ab. Wir waren ganz viel mit Vorurteilen behaftet. So was fühlte sich wie abgeben, abschieben an. Komischerweise hat man das bei nicht behinderten Kindern ja so gar nicht, die schlafen ja auch mal woanders! Das wird sogar als sinnvoll erachtet.“

 

Den letzten Tropfen füllt eine aufmerksame Heilpädagogin aus dem Kindergarten in ihr zum überlaufen drohendes Fass.

Diese sieht, liest zwischen den Zeilen. Erkennt. Wird deutlich:

„Rabea, du musst was tun, bevor du zusammenbrichst…“.

 

Ich hake nach, weil sie so souverän über alles erzählt - „Weil es so anstrengend war.“

 

Solche Menschen begleiten sie auf ihrem Weg, im Rückblick waren es immer einzelne Menschen, die wie Wegweiser auf ihrem Weg waren. Ein aufmerksames Umfeld.

Ein weiterer Mensch, eine Brückenschwester, vom „bunten Kreis*“ hat ihr ganz viel an die Hand gegeben.

 

Der Anfang

 

Mit einem Satz sind wir beim Anfang der Geschichte.

Wussten sie um Jaros Besonderheit schon bevor er zur Welt kam?

„Nein, überhaupt nicht. Ziemlich zum Ende der Schwangerschaft war ich bei einer Routine Ultraschalluntersuchung. Dort kehrte plötzlich eine eigenartige Ruhe ein.

Das Ultraschall zeigte: Das Kind ist zu klein.“ Sie bekommt eine Überweisung ins Krankenhaus zur Feindiagnostik.

 

Auf dem Ü-Schein starren sie die Worte an: To small for birth.

 

Die erste Welle der Verunsicherung rollt auf sie zu. Auf einmal ist er zu klein? Heftige und intensive anderthalb Tage voller Sorge und Ungewissheit vergehen.

 

Die Feindiagnostik bringt Entwarnung.

 

Alles scheint gut, er ist einfach nur ein bisschen kleiner. Mit ihrem ersten war sie auch schon da, der war zu groß.

Hat sie wohl einfach nur 2 Extreme.

Aufatmen. Unter der Welle hinweg getaucht.

 

Das war an einem Mittwoch. Am darauffolgenden Freitag morgen platzt die Fruchtblase.

Oben im Haus. Was bedeutete: Liegend Transport ist angezeigt.

 

„Oben“ ist es aber eng.

 

Die beiden vom Liegend Transport diskutieren, entscheiden, dass sie sie liegend nicht runter bekommen.

Im Nachhinein ist die Lösung irgendwie passend zu dem, was die Geburt ins Leben der Familie bringt: außergewöhnlich, kreativ, aufsehenerregend, aufwendig aber voller spaßiger Momente!

Die Feuerwehr rückt an, mit Drehleiter und allem drum und dran bugsieren sie Rabea aus dem Fenster! Was für ein Start:-)

 

Über die „Was denken die anderen“- Gedanken kann sie heute nur schmunzeln.

 

Bei der Geburt muss darauf geachtet werden, dass er wach ist, der ganze Vorgang kommt nicht so richtig in Gange. Das war schon komisch.

 

Dann ist er da. Erleichterung, alle Anspannung - blieb.

 

Selbst heute kann sie es im Nachhinein nicht wirklich erklären. Sie nehmen ihn kurz mit. Er hat ein extra Fingerchen. Auch das erstmal ja nichts weltuntergängliches.

 

Aber ihre innere Anspannung bleibt. Ab dem Moment begleitet sie das Gefühl: Irgendwas stimmt nicht.

Während sie von der Geburt erzählt, ist Jaro, der bei uns auf seinem Spielteppich liegt, ganz still. Hört zu?

Das fällt mir jetzt beim Hören der Aufnahme auf.

 

Die meiste Zeit lautiert er im Hintergrund geräuschvoll, aber jetzt ist es ruhig.

 

Zunächst geht es auf die Mutter-Kind-Station. Es ist irgendwas gegen drei Uhr in der früh.

Die Krankenschwester geht nicht, beobachtet das Neugeborene.

 

Geht nochmal mit ihm weg, nach vorne. Rabea fühlt sich der Situation ausgeliefert, weiß nicht was vor sich geht.

Ist übermüdet. Kann trotzdem nicht schlafen.

 

Sie erinnert sich, das ein ganz irrationaler, eigenartig anmutender Gedanke sie trotz Müdigkeit davon abhält:

„Ich kann nicht schlafen, weil wenn ich danach wieder ins Bettchen gucke, liegt mein Kind dann da tot.“

Obwohl es keinen Hinweis auf eine Lebensgefahr oder bedrohliche Situation gab.

Die Erinnerung ist klar. Die Gedanken waren da.

 

Ja, es gab Hinweise, dieses spezifische blaue Munddreieck, was auf einen Herzfehler hinweisen kann. Ein trockenes Würgen und häufiges Erbrechen. Er soll den Kinderärzten vorgestellt werden.

 

Am Folgetag rieselt noch ein kleiner Glücksmoment mit dem großen Bruder ins Leben, der ihn noch liebevoll begrüßt, dann nehmen die Ärzte den kleinen Jaro mit.

 

Gefühle strudeln sich zusammen, einerseits ist da jemand, der sich kümmert, andererseits nimmt da einfach jemand ihr Baby weg.

Noch schlimmer, sie soll auch nicht mit, es wird um „Vorlaufzeit“ gebeten.

 

Sie warten eine gefühlte Ewigkeit.

 

Dann dürfen die Eltern zu ihm, sehen ihn wieder, verkabelt und mit Schläuchen bewaffnet bis unter die Zähne an diesem kleinen Körper.

 

Es ist eine kleine große Hilfe, dass ihnen eine einfühlsame und bedachte , gut erklärende Ärztin die Vermutung nahebringt: Lungenentzündung.

 

Die nächsten 5 Tage soll er noch hier auf der Kinderstation bleiben, solange er ein Antibiotikum bekommt.

 

Ok, Planänderung.

 

Nächster Tag. Noch mehr Planänderung.

 

Jaro ist auf die Intensivstation verlegt worden. Dort liegt er in einem Inkubator. Es ist der Eintritt in eine völlig fremde Welt. Irgendwie eine falsche Welt.

 

Ein einziges großes Fragezeichen, Gefühlswelt einmal im Kopfstand: „Was passiert hier gerade? Es wird von Atemaussetzern gesprochen. Auch liegt die Vermutung eines Herzfehlers in der Luft.

 

Ok. Nach und nach…“ sie unterbricht sich, lässt die Gedanken doch abbiegen, „...ich habe nur noch geheult, ich konnte nicht mehr. Habe mich entlassen lassen. Das war einer der schmerzhaftesten Momente. So schlimm, ohne Baby nach Hause zu kommen!“

 

Dort verkriecht sie sich im fertigen Babyzimmer. Rabea, die bis hierhin mit der Stärke der überwundenen Schwierigkeiten sprechen konnte, übermannt die Erinnerung an diese Momente.

 

Zu viele Wellen, ungewohnt hoch.

Diese drückt sie unter Wasser. Sie trauert.

 

Einfach alles nicht richtig so. Zu diesem Zeitpunkt gehen sie noch davon aus, dass sie ihr Baby nach 5 Tagen mit nach Hause nehmen können.

 

Sie fängt sich schnell wieder und erzählt mir tapfer weiter: „Jedes mal, wenn wir im Krankenhaus sind, kamen mehr Anzeichen für ein Chromosomenfehler. Anfangs waren es 3, dann 7. Aber ganz ehrlich? Man redet es sich harmlos.“

Mit einer Verdachtsdiagnose geht es nach Kiel zur Humangenetik und HNO.

Alles so in den ersten Wochen. „Das war der erste Moment, wo ich angefangen habe zu realisieren, es stimmt wirklich was nicht.“

 

Es wurde gemacht und gemessen.

 

Und gefunden. Sie findet das alles absurd, die Ärzte finden einen seltenen Fehler auf dem ersten Chromosom, sind mit ihren Forschungen allerdings noch nicht am Ende.

 

Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt heißt es dann, er soll ja auch mal nach Hause.

 

Die nächste Welle: „Ich kann ihn doch nicht mit nach Hause nehmen – dann müssen wir das alles alleine machen? Kann ich die Verantwortung überhaupt tragen? Das Krankenhaus war so ein geschützter Raum. Das waren so `Ich will das nicht – Ängste`“.

Zum Glück gibt es da diese wunderbare Brückenschwester!

Also schultern sie Nasensonde, einen Monitor zur Überwachung, Sauerstoffflasche und mobiles Sauerstoffgerät und machen sich auf den Weg in die neue Normalität.

 

Seit diesen Tagen ist sie so wahnsinnig gewachsen.

 

Mit den Aufgaben und Herausforderungen.

 

Erledigt das heute gelassen und entspannt, sicher, professionell. Erfahren.

Aber die erste Zeit … Schlafmangel, nächtliche Milch-abpump-Aktionen.

Der 2 jährige, der ja auch noch da ist.

 

Fehlende Aufklärung über Elternzeit.

Die finanziellen Fragen. Therapien.

Die gut-meinende Familie. So viele Entscheidungen. Ein Krampf. Ein Kampf.

 

Die Diagnose

 

Die Diagnose, auch das war so ein Moment, da war er 3 Monate alt Januar 2013, es heißt `irgendwas auf Chromosom eins`.

 

Was es bedeutet? Kann niemand sagen.

 

Das macht sie fast ein bisschen sauer – „Konnten sie mir nicht sagen: er hat Trisomie 21, das kennt man wenigstens, aber das, da kann ich doch gar nix mit anfangen…“

 

Herzliches Lachen. Heute.

 

Der Vorteil an diesem Umstand - dafür kann auch niemand sagen, was das Kind NICHT können wird!!!

 

Was es ganz eindeutig kann: Glück in die Familie bringen!

 

„In uns reifte ein Gedanke - man erwartet nicht das Schlimme und erwartet nicht das Gute. Man erwartet überhaupt nichts. Was er kann, wird gefeiert.“

 

Ich muss an eine Stelle aus einem Buch denken:

„Eine Minute noch oder zwei. Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: das Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in einer so perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte.“

(aus: „Alte Sorten“)

 

In der Babygruppe, die sie besuchen, sind zunächst alle gleich.

Schlafen, futtern und schauen in die Welt.

 

Doch die anderen beginnen zu robben, sich zu drehen, werden agiler, die Gruppe bietet den Nährboden, direkt zu vergleichen.

 

Unterschiede werden deutlich.

 

„An dem Tag, als er ein Spielzeug von der einen in die andere wechselt, haben wir vor Freude geheult.“ Kleinigkeiten, die einem sonst gar nicht wirklich auffallen. Produzieren große Gefühle!

Jaro ist nun knapp ein Jahr. Bekommt Frühförderung.

 

War sie voll im Bilde?

 

Nein. Lange dominieren die Gedanken, dass er sich noch völlig normal entwickelt.

Halt nur langsamer. Verzögert.

 

„Ich kann dir nicht ganz genau sagen, wann der Moment war, an dem man das komplett merkte, das etwas anders bleibt, wann die Hoffnung gestorben ist. Es war eigentlich ein schleichender Prozess. Irgendwann merkte man, alle anderen Kinder haben ihn (in der Entwicklung) überholt.“

 

Sie hält kurz inne und während sie weiterspricht rührt sie etwas an:

„Doch. Jetzt weiß ich, wann der Zeitpunkt gewesen ist. Wo ich hier mit dir drüber spreche.

Er war halt immer noch unser Kleiner, unser Baby.

 

Er war halt das Baby. Und dann hatten wir uns ja entschieden, noch ein Kind zu bekommen.

Und dann kam Rimo. Und Jaro war 4.

 

Und da merkte ich, Jaro ist eigentlich gar kein Baby mehr.

 

Es war das erste mal, als Jaro 4 Jahre alt war und ich für mich in so einen inneren struggle gekommen bin und ich für mich, - ich konnte ihn die ersten Wochen nach der Geburt nicht anfassen, das war – ich mochte einfach nicht. Auf einmal, kam er mir … behindert vor.“

 

Es kommt zögerlich. „..und anders, ganz auf einmal. Vorher habe ich das nie gesehen.

 

Auch von außen kam bis dahin immer nur „oh das Baby!“ weil er halt am Boden liegt und im Rollstuhle sitzt.

Als wir dann ein Baby bekamen, merkten wir, er ist gar kein Baby mehr.“

 

Das war so der Zeitpunkt, als ich realisiert habe, dass ich ein behindertes Kind habe.

 

Es war bis dahin nicht richtig angekommen.

Kann es nicht richtig beschreiben. Ist nicht so, dass sie es ausgeblendet hat.

 

Sie wusste es schon. Irgendwie.

 

Aber jeder darf ja anders sein.

 

Hatten Pflegestufe und Schwerbehindertenausweis, das war alles da und präsent -und trotzdem.

Der Kopf ist bis dahin mit einer eigenen Wahrnehmung spazieren gegangen. Dahin geschlendert. Hat sich Zeit gelassen.

 

Ganz früh hat sie sich entschieden, deutlich von ihrem „behinderten“ Kind zu sprechen.

 

Die Formulierung, dass ihr Kind „krank“ ist, hat sie schnell gelassen, weil daraufhin so Fragen kamen wie: Was hat er denn, wann geht es ihm denn wieder besser?

 

„Doch Bea, Jaro sieht anders aus.“

 

Sie erzählt mir, wie sie ihren Blick auf Jaro wahrnimmt.

 

Das es sogar einen Unterschied gibt, wie sie ihn auf Fotos sieht.

 

Da denkt sie manchmal, hä, er sieht da behindert aus, aber so sieht er doch gar nicht aus.

Sie konnte es lange gar nicht sehen, dieses „anders“.

 

Aber die Umgebung sieht es. Guckt.

 

Sie lassen es sich trotzdem nicht nehmen, raus zu gehen.

 

Behinderte Kinder müssen mehr sichtbar sein, so wichtig dass sie sich zeigen, gesehen werden. Ins Bild gehören.

 

Es wird aber immer schwerer, in die Öffentlichkeit zu gehen, weil ich dieses angeguckt werden immer mehr merke.

 

Es wird verstärkt durch die beiden anderen Kinder, die das verstärkt wahrnehmen.

 

Der 12 jährige große Bruder, dem es unangenehm auffällt, sogar der Jüngere, gerade 6 bemerkt die Blicke: „Oh Mama wir werden die ganze Zeit nur angeguckt!“

Hast du ein spezielles Netzwerk?

 

Ein Netzwerk – „Jein. Was die spezifische Behinderung betrifft, relativ wenig. Solche Kontakte führten zu vergleichen. Das tat nicht gut.

 

Da habe ich schon eher Kontakt zu Müttern mit anderen Behinderungen bei den Kindern.

Die Sorgen und Ängste sind ja ähnlich, es gibt nur keine Grundlage für unmittelbaren Vergleich der Kinder.

Das tut gut.

 

So können die Kinder einfach so sein, wie sie sind und die Eltern reden darüber wie es ihnen geht und wie sie mit dem Leben umgehen.“

 

Die Zeit ist verflogen. Rabea hat es geschafft, fast mit jedem Atemzug auch etwas zu sehen, wofür sie dankbar ist.

Seit Januar arbeitet sie. Als Zahnarzthelferin in einer Praxis, die es schafft, es passend zu machen.

Ist aktiv in der Feuerwehr geworden.

 

Hat sich ihr Leben zurückerobert.

Ihr Leben mit einem behinderten Kind.

 

„Eins habe ich durch das Leben mit Jaro besonders gelernt:

 

Andere Eltern nicht zu verurteilen, für das, was sie tun. Niemand weiß, wie sich das jetzt gerade alles für sie anfühlt.

 

So oft kommt den ganzen Plänen und Vorstellungen eh das Leben dazwischen.

Jeder muss seinen eigenen Weg finden.

 

Was ich mir bewahrt habe, ist die Empathie für andere – mein Problem ist nicht größer als deins! Jeder trägt sein Päckchen. Keine Vergleiche. Nur Annehmen.“

 

Kann man die Welt sehen, die diese Kinder mitbringen?

Will man sie sehen?

Man könnte.

 

Denn es gibt sie!

 

Menschen zu finden, die mit uns fühlen und empfinden, ist wohl das schönste Glück auf Erden.“

(Carl Spitteler)

 

Was hat man für ein Glück, wenn man auf Rabea trifft!

Danke.

 

 *unter NÜTZLICHES !

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Kommentare: 7
  • #1

    Anne (Sonntag, 23 Oktober 2022 15:27)

    Dieses Glück auf Bea zu treffen habe ich auch. Drück dich �

  • #2

    HMD (Sonntag, 23 Oktober 2022 16:10)

    Jaro und seine Familie sind wirklich außergewöhnlich und wir lernen viel von ihnen. Wir sind so dankbar, sie in unserem Leben und unserer Familie zu haben!
    Vielen Dank für diesen besonderen Bericht, der viele Erinnerungen und damit verbunden auch Emotionen hervorgerufen hat. Bea hat es wunderbar ausgedrückt.

  • #3

    Jenika (Sonntag, 23 Oktober 2022 16:41)

    Was für ein Reisebericht des Lebens...
    Emotional, ehrlich, ergreifend..einfach Bea!
    Danke, an euch beide, dass wir einen Teil davon, so wunderbar geschrieben, lesen durften!!!

  • #4

    Annika (Sonntag, 23 Oktober 2022 17:09)

    Was für ein berührender und ehrlicher Bericht einer außergewöhnlichen Frau und ihrer wunderbaren Familie! Wie schön, dass unsere Lebenswege sich gekreuzt haben und wir uns kennenlernen durften! God bless you!

  • #5

    Susann (Sonntag, 23 Oktober 2022 19:14)

    Meine liebe Bea.
    Es ist ein grosses Geschenk, dich zur Freundin zu haben, du bist wundervoller und positiv und zeigst uns und Umwelt, WIR WACHSEN AN UNSEREN AUFGABEN... du machst es toll und hast eine tolle Familie und Freunde... Alles Liebe Susann

  • #6

    Deine Eltern (Dienstag, 25 Oktober 2022 16:27)

    Liebe Bea,
    wir, Deine Eltern haben die ganze Entwicklung miterleben dürfen. Auch für uns war es eine harte Zeit. Wie Du hier über Deine Gefühle sprichst, macht uns sehr nachdenklich. Vieles in Deinem Kampf scheint an uns vorbei gegangen zu sein. - oder man hat es einfach verdrängt!? Sei Dir gewiss: Du warst und bist eine großartige Mutter - trotz Deines Kampfes, Deine eigene Identität wiederzufinden.
    Wir haben Dich unglaublich lieb und sind stolz auf Dich und auf Deinen Christian, der das Ganze geduldig und aufopfernd mitgetragen hat.

  • #7

    Wow (Montag, 31 Oktober 2022 20:25)

    Danke fürs Teilen und teilhaben lassen. Alles Gute der Familie <3